Leseprobe (Kapitel 1) - Jack Neuhaus: 1983 - Zwischen Jugend und Freiheit

Als das Jahr 1983 begann, hatte Jack bis zum Abitur am Cartesius-Gymnasium in der mittelgroßen Stadt Osnabrück noch vielleicht ein halbes Jahr Schule vor sich. Dieser Umstand beschwerte ihn nicht im Geringsten. Er lebte, wie viele andere 19-Jährige aus bestem Hause auch, in der ewigen Gegenwart. Jack war jemand, der sich im Spiegel sehr mochte und im Wettstreit mit anderen Grund sah, sich noch mehr zu mögen. Jack nahm gerne Wortschöpfungen wie „Existenz-an-sich“, die er abgekupfert hatte – nur wo? – und schrieb diese in sein Tagebuch; er machte Derlei in der Hoffnung, dass jemand zufällig unerlaubt seine Aufzeichnungen lesen würde und ihn dann wegen solcher Einfälle genialisch und angemessen schwermütig fände. Beides war er nicht, vor allem nicht schwermütig. Und dazu hatte er auch nicht den mindesten Grund.

Er wohnte bei seinem Vater Karl und dessen langjähriger Freundin Maria, die sein Vater bald, zwecks Neustart nach Entfremdung, heiraten würde, was zu Beginn des Jahres 1983 noch niemand geahnt hätte. Maria mochte ihren eigenen Namen nicht und bestand darauf, „Biene“ genannt zu werden, was Jack peinlich fand, besonders wenn Gäste zugegen waren. Sollte Maria wollen, dass jemand sie für klug befände, dann war „Biene“ in den Augen Jacks strategisch höchst unüberlegt, wenn nicht schlicht dumm. Karl spielte bei solchen Marotten von Maria unterstützend mit, aus Trägheit, da war sich Jack sicher – und trotzdem eigentümlich.Maria abzukanzeln, wäre dem Klima ihres Familienzusammenlebens nicht dienlich gewesen.

Karls vermeintliche Toleranz lag kaum daran, spekulierte Jack, dass Jacks Vater durch besondere Qualitäten figürlicher Natur von Maria entschädigt wurde. Welche Qualitäten gab es denn sonst, die zählten? Figur, das hätte Jack als Pro-Argument Karls für Maria verstanden – hätte. Alles höchst hypothetisch. Eine gute Figur zu besitzen, diese selbst zu besitzen oder zumindest über einen Partner zu verfügen, der mit einer solchen ausgestattet ist – das war der Heilige Gral. Da hörte das Hypothetische auf. Nach über einem Jahrzehnt Beziehung mit Maria war Langeweile eingekehrt. Die Verdeckung der Langeweile durch infantile Kosenamen ging für Karl allem Anschein nach in Ordnung. So sah es jedenfalls aus.Auf einer tieferen Ebene unter der Langeweile verachtete Karl seine langjährige Partnerin Maria, die sich hier und da, egal wie unsichtbar für die Außenwelt, zu einer Pompadour zu stilisieren versuchte; Karl musste also König Ludwig XV. darstellen. Wer Maria manipulieren wollte, sprach sie mit Frau Professor an. Sie hatte einen Realschulabschluss, lief aber schon seit Jahren nicht mehr rot an, wenn jemand sich mittels der „Frau Professor“-Anrede als ein Höfling empfahl. Wieso entledigte Karl sich ihrer nicht? Das endgültig zu bewerten, überstieg Jacks jugendliche Sensibilität. Sein Zwischenfazit: mangelnder Schneid, mangelnde Männlichkeit. Jack störte sich ganz allgemein am weichen Auftreten Karls Frauen gegenüber. Je hübscher seine Weiber, umso kriecherischer Karl, urteilte Jack über seinen Vater, seinem Schulfreund George gegenüber. Seinen Vater direkt auf diesen empfundenen Mangel an Machismo anzusprechen, da war sich Jack sicher, hätte eh nichts geändert.

Jack ertrug folglich mit dem Fatalismus eines Neunzehnjährigen, eines Halbstarken, wie sein Opa ihn nannte, das unangenehme Fortbestehen von Dissonanzen, das Fortbestehen der Heucheleien am Frühstückstisch, wo Streitereien wegen der Verschlafenheit vor dem ersten Kaffee besonders deutlich hervortraten. Das Belegen der Brötchen, immer mit viel mehr Belag als Brötchen, war also täglich begleitet von x Manövern, mittels derer eine tiefe und nagende Unzufriedenheit unter Verschluss gehalten wurde.

Karl sah seine Nachgiebigkeit wohl insgeheim an sich selbst als tadelnswert an und rächte sich deshalb an den wenigen unmittelbaren Zeugen für sein ureigenstes Duckmäusertum, rächte sich etwa durch das gelegentliche Bewerfen von Maria mit Spezereien bei Tische. Viel Zeit ging mit Denkprozessen dahin, deren Ziel die Herabwürdigung Dritter war. Einmal blieb ein Pfannkuchen unglücklich in Marias Gesicht hängen. Jack war, neben Maria sitzend, Zeuge des Geschehens; er blieb unschlüssig, ob er es sich erlauben sollte, angesichts einer solchen Entgleisung über den Essenswurf zu lachen. Lustig war es ja. Er befand dann, dass der Vorfall die Grenze des Lustigen klar überschritten hatte, dass also sein Vater grob undankbar gewesen sei, zumal Maria ja liebevoll die Pfannkuchen für ein besonders nett gemeintes Frühstück erst zubereitet hatte, nur um dann von Karl mittels des Lieb-Gemeinten beworfen zu werden.

Nicht zu lachen angesichts einer so mustergültigen Vorführung von Sadismus war im Falle von Jack bemerkenswert, denn eigentlich galt Schadenfreude als Jacks charakteristischster Wesenszug. Maria entglitten bei dem besagten Ereignis die Gesichtszüge, passend zum schließlich herabgleitenden Pfannkuchen. Sie sagte zunächst nichts. Dann würgte sie ein klägliches „Sag mal, spinnst Du?“ hervor; ein Satz, der, wie Jack es sah, den getretenen Hund in ihr offenbarte und keineswegs die indignierte große Pompadour, die sie an der Seite von Professor Karl Neuhaus ja darstellen wollte. Maria, vom Naturell her überkritisch und manipulativ, hatte sich in der Beziehung zu Karl zu einer dauerhaft unzufriedenen Frau vom Typ „böse Stiefmutter“ in besagter Zweisamkeit mit Jacks Vater festgebissen. Dass sie nach dem Beworfen-Werden so versteinert dasaß, signalisierte Jack, dass der Vorfall aus anderen Vorfällen ähnlicher Art als ein besonderer herausragte.

„Jack“, hatte Karl seinem Sohn einmal geheimbündlerisch zugeraunt, „zeig mir den Mann, der mehr als ein Jahr mit seiner Frau oder Freundin zusammen ist und sie dann immer noch liebt. Wer das behauptet, ist ein Lügner!“

Und Jack, obwohl noch grün hinter den Ohren, hatte darauf geantwortet: „Eine Woche, Papa, eine Woche reicht! Eigentlich ist man schon nach einer Nacht gelangweilt!“

Eine großspurige Bemerkung, großspurig vor allem deshalb, weil Jack noch nie eine Freundin gehabt hatte, und das bedeutete bei ihm auch: Er hatte noch nie mit einem Mädchen Sex in irgendeiner Form gehabt. Trotzdem verstieg er sich, ganz der Casanova, zum Philosophieren über die Abnutzung der Leidenschaft nach nur einer Nacht. Dabei war Jack attraktiv und kam zudem aus noblem Hause. Aber er war eben auch linkisch; und die Leute – somit auch die Mädchen – vermuteten, dass etwas an ihm auf eine möglicherweise abenteuerliche Art nicht stimmte.

„Weißt du, Jack“, fügte Karl seiner Bemerkung über den raschen Tod der Liebe hinzu, „eine Frau ist eine Violine. Die Kunst, die ein Mann zu erlernen hat, besteht darin, mittels dieser zu musizieren!“

Damit war nun ein Bereich menschlichen Seins von Karl anvisiert, in welchem Jack sich nicht mehr traute, zu parlieren. Und so schwieg er – und merkte sich das mit der Violine.

Maria nahm sich nach der Szene mit dem Pfannkuchen einen Liebhaber, einen dicken, und das war der eigentliche Affront, denn Karl war schlank und sportlich. Jack war sich sicher, dass das wohl endlich das überfällige Ende der Beziehung sein würde – und war hellauf empört, als es das nicht war und sich Karl und Maria zusammenrauften. Jack musste miterleben, wie der dicke Liebhaber doch tatsächlich ungestraft bei ihnen zuhause anrufen und Maria ans Telefon verlangen konnte. Wenn also Karl den Hörer abnahm – und Dickerchen war am anderen Ende, reichte Karl das Gespräch als Gehörnter brav weiter an die vom Dicken Umschwärmte. Oh, Gipfel der Unmännlichkeit, dachte Jack.

Jack war zu körperlicher Gewalt ernsthaft in der Lage und bot seinem Vater an, dem „molligen“ Geliebten Marias aufzulauern und diesen zusammen mit einem Kumpel zu verprügeln. Jack wollte keinen Vater, der auf der einen Seite am Institut für Kernphysik seine devoten Mitarbeiter drangsalierte, um dann auf der anderen Seite bei den „Weibern“ (Tagebucheintrag Jacks) weich zu sein wie Watte. Karl lehnte den Vorschlag seines Sohnes ab. Anstatt Maria zum Teufel zu jagen, flog er mit ihr in die USA, heiratete sie in Las Vegas und dann, ein weiteres Mal, kirchlich in Deutschland. Und so wurde die „Biene“ Jacks Stiefmutter.

„Warum möchtest du, dass Papa dich ‚Biene‘ nennt? Maria ist doch ganz in Ordnung als Name!“, fragte Jack sie bei einer Gelegenheit.

„Wegen ‚flotte Biene‘ – das sagen junge Leute heutzutage doch so“, war ihre Antwort.

„Junge Leute in den 60ern vielleicht; wir haben jetzt aber die 80er!“

„Dann eben wegen ‚Sabine‘ – der Name gefiel mir schon immer!“

„Da sehe ich schon eine gewisse Entfernung – von Maria zu Sabine zu Biene!“

„Mag sein. Mir gefällt der Name aber!“, beendete Maria das kurze Gespräch, auf der in ihr Schlafzimmer nach oben führenden Treppe stehend, und sang dann, im Bad verschwindend, ihren erfundenen Namen mehrfach. Beim Singen klang alles falsch und erzwungen, was, so fand Jack, ja die Realität ihres Daseins mit Karl war – ihres Lebens in einer Presse. Außerdem vermännlichte Maria ihre Stimme in Richtung Stimmbruch beim Singen, machte ihre weibliche Stimme so tief es eben ging, als wäre sie lieber ein Kerl.

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