Leseprobe (aus Kapitel 1) - Die Reisen der Amazone

HHinten, am linken Rand des Horizonts, wo das Meer eine ferne, starre Linie war, versank der Sichelmond, mit dem Bug nach oben, wie ein absaufendes Boot. Der Tag hatte, was die Tageszeit betraf, längst begonnen, weshalb Jane das Phänomen der Rand-Abschattung des Gesamtbildes überhaupt auffiel. Die Frühe war heute anders als andere Tagesanfänge. Noch weiter links waren sogar noch blasse Sterne zu sehen, wie aufgehängte kleine Bälle, Sterne, die längst hätten unsichtbar sein müssen angesichts dessen, dass es früher Morgen war – bleich geworden schienen sie ihr Teil einer allgemeinen Tragödie: schön zu sein und sich auflösen zu müssen. Eine Verdunkelung kam über die Landschaft – wie ein stilistischer Hinweis, den Entwurf einer Gegenwelt kurz zu beurteilen. In der Ferne war ein Segelboot, wohl mit einem Frühaufsteher darin. Das Segelboot leuchtete, anders als der Mond, keinen Kranz um sich aus. Die Form des Segels war aber ebenfalls eine Sichel. Das Wasser dort hinten reflektierte den Himmel, war ein dunkel getönter Spiegel, der jedem hineinschauenden Gesicht schmeicheln würde. Ja, so ließ sich das denken. Trotz der Wirklichkeit, die die Spiegelung zu sein scheint, bleibt das, was hinter der Reflexion ist, allen verborgen, die sich betrachten. Jane bemerkte ihre Gedanken über Gedanken und schüttelte den Kopf, um das loszuwerden. Von rechts kam jetzt die kräftige Sonne über den Horizont, sah einen Moment lang aus wie eine an Stellen weiß glänzende Orange auf eisblauem Grund. Jane entdeckte ein weiteres Segelboot, das klein und klobig wirkte. Und da hinten war eine Fläche im Watt, welche wohl nie von den Gezeiten geflutet worden war, sonst hätten die Leute nicht so vertrauensvoll Ruderboote auf das kleine Eiland gezogen, Boote, die schlafend aussahen, weil die universelle Ruhe des Morgens diese Boote wesenhaft und zum Schlafen imstande aussehen ließ. Drei kleine Häuschen gab es dahinten. Und dann erkannte Jane einen Baum, den sie bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte. Einen kurzen Augenblick lang, wiederum wenige Sekunden nur, waren Sonnenscheibe und Mondsichel gleichberechtigt und teilten die Beleuchtung der Landschaft unter sich auf, halb halb. Halb halb, wie die Reisen mit Anna, halb friedfertig, halb das Gegenteil von friedfertig. Jane saß bequem, ihr Kinn in einer ihrer Handflächen ruhend, auf dem Stumpf eines abgesägten Baumes, wie auf einem Hocker, und schaute sich um. Sie dachte dabei auch an die Jahre, während derer der nun abgesägte Baum gestanden hatte, auf dessen Rest, nahe der Wurzel, sie sich gesetzt hatte. Jane, mit ihren nur 14 Jahren, nahm nicht bloß die Landschaft des frühen Tages in Augenschein, sondern auch die letzten Jahre des Umherziehens mit ihrer Mutter, Anna – wenn Anna denn überhaupt ihre biologische Mutter war. Jane hegte diesbezüglich berechtigte Zweifel. Und was berechtigt war oder nicht, darüber entschied Jane längst selbst. Sie wusste, wer und was sie war. Vor tausend Jahren wäre Anna eine Kriegerin gewesen – schier unbesiegbar. Und wer wäre sie, Jane, damals gewesen? Sie dachte kurz nach. Vielleicht die Bibliothekarin einer frühen Universität. Sie wusste, dass das für eine junge Frau damals nicht vorgesehen gewesen wäre. Aber Jane hätte in jeder Vergangenheit durchgesetzt, wonach ihr gewesen wäre – da war sie sich sicher. Sie war in diesem Punkt Anna ähnlich – nur eben im Geiste. Anna ging vor Janes inneren Augen zwischen Toten umher, wie eine nordische Gottheit, eine Walküre, über ein Schlachtfeld. Anna zerstörte Menschen, die ihren Weg kreuzten. Anna nannte das: Übung. Jane hingegen hatte mehr und anderes in ihrem Wesen als das, was hinter Annas Übungen steckte. Jane schätzte beispielsweise den Frieden jener Familien, in denen Anna sie hier und da unterbrachte, während Anna, wie sie sagte, etwas erledigte – etwas erledigte; Jane verdrehte, ob der Erinnerung an diesen immer gleichen Spruch, die Augen, obwohl es niemanden gab, der ihren mimischen Kommentar hätte sehen können. Es gab Einzelheiten, für die Anna weder Sinn noch Wahrnehmung übrig hatte. Details sah Anna nicht, Anna sah nicht die feinen Bedeutungslosigkeiten des Alltags. Jane nahm diese aber sehr wohl wahr. Man musste sich ja fast schämen, dass der gewaltsame Tod von Mensch, Tier und Pflanze zeitlich und räumlich so unmittelbar an das Besorgen von Brot beim Bäcker oder die Morgentoilette grenzte – oder dass Dichtung, die tief berührt, so nah an die Gedankenlosigkeit allgegenwärtiger Reklame oder ein reflexhaftes Nicken zum Gruß grenzte. Jane hatte ein Sensorium dafür, dass Dinge und Ereignisse so gestaltet waren, dass ein Kinderbuch, ein Zeitungsausschnitt, öffentliche Plakatwerbung … nahtlos übergingen in die Beschreibung eines Kriegs, für den sich niemand interessierte, übergingen in den im Horror verborgenen nächsten Horror. Es gibt Vorkommnisse, die so jenseits der Wirklichkeit sind, dass sie wohl gerade deshalb zur Wirklichkeit gehören. Grausamkeit und Mitleid sind wie Wegmarken in einer Wüste endloser Plattheit. Anna erkannte die Wüste nicht an. Sie sah die Wegmarken. Für Jane war die Gehaltlosigkeit des Alltags die Wirklichkeit, endlos wie die Wüste. Jane schloss kurz die Augen und öffnete sie wieder. Das noch winterliche Nordmeer hier roch gut und klang gut. Dann schweifte ihre Aufmerksamkeit ab. Sie verglich das Leben mit einer Erzählung. Alles beginnt als Komödie, war ihr erster Gedanke, verwandelt sich dann in ein Drama, endet als Tragödie. Es bot sich an, es sich so vorzustellen. Jane, die auf das in der Frühe noch ruhige Wasser hinausschaute, verwarf ihren ersten Gedanken in diese Richtung dann. Es war doch eher so, dass all diese Gattungen des Erzählens sich gleichzeitig ereigneten. Das Mal-so-mal-so bewirkte jedenfalls für sie eine angenehme Ferne, eine Art Levitation, als wäre die Umgebung, als wären alle Ereignisse in dieser – geträumt und würden nur aus Gewohnheit der Realität zugeschlagen. Anna war in die Ortschaft gegangen; Jane war zurückgeblieben, um das Gepäck im Auge zu behalten. Anna hatte ihr gesagt, sie würde in der Ortschaft alles vorbereiten und erkunden für einen Auftritt als Puppenspielerin. Aber stimmte das? Jane dachte an bildliche Darstellungen der indischen Todesgöttin. Anna war, verglichen mit Kali, wesentlich muskulöser. Viele, denen Anna begegnete, hätten Grund gehabt, argwöhnisch zu sein. Und schon war es für Betroffene zu spät, etwas zu bereuen – so war es doch fast immer. Wieso also sollte Jane ihrer Mutter vertrauen? Jane kehrte zurück zu ihrer inneren Betrachtung von Erzählformen. Sie hatte die Fähigkeit, alles auf Abstand halten zu können. Und Anna wusste, dass sie, Jane, das konnte. Warum sprach sie ihre eigene Mutter mit Vornamen an? Vor Jane löste sich ein Nebel aus winzigen Fliegen aus dem Boden, hob ab und beschrieb Formen der Verbundenheit. Tausend Punkte, jeder Punkt mit tausend Punkten verbunden. Die Insekten blieben zusammen und wirkten auf Jane wie ein Schwarm, wie eine langsam sich im Wind wölbende und dann wieder in sich ruhende Fahne. Ein paar Stunden später kam Anna aus der Ortschaft zurück und setzte sich zu ihrer Tochter und schaute ebenfalls aufs Meer hinaus. Dann zogen Anna und Jane weiter.
***

Ein paar hundert Schritte vom Damm entfernt lag ein Gehöft, das aus einem halben Dutzend Häusern bestand; Anna konnte die Hunde bellen und an ihren Ketten rasseln hören, sie konnte vernehmen, wie andere Tiere auf das Bellen reagierten. Die Bewohner hatten keine Ahnung, dass sie, Anna, ihnen so nah war. Die Leute nahmen nur die Hunde wahr, die sich da, mit Schaum vor den Mäulern, gegen die Kraft der Ketten stemmten, die sie festhielt. Die Hunde standen aufrecht an diesen Ketten und sahen dabei aus wie seltsame, spindelbeinige Männer. Für deren Besitzer waren sie eher Wünschelruten, dafür da, Verborgenes aufzuspüren. Wen oder was die Hunde bemerkt hatten, wussten ihre Halter nicht, und so zögerten sie, ihre Tiere loszulassen, aus Angst, die Hunde könnten einen Nachbarn, einen Wanderer oder einen Suchtrupp angreifen. Nein, es war doch besser, die Hunde in der Nähe von Hof und Eingangstor zu wissen, damit das, was da draußen zwischen den kleinen Baumgruppen war, das Unbekannte, sich nicht unbemerkt ins Haus schleichen konnte, während die Hunde vielleicht ganz woanders waren, auf einer falschen Fährte. Dann bliebe das Heim ja schutzlos und ohne die schärferen Wahrnehmungen der jetzt laut kläffenden Wächter. Der Schwarze Tod hatte diese Gegenden vor hunderten von Jahren doch auch heimgesucht. In den Erinnerungen aller hier war das der Bodensatz, auf dem neuere Gedanken wuchsen – scheinbar neuere. Und zu jenen Zeiten, als die Bewohner die Warnungen und Vorboten der Flut, des „Ertränkers von Mensch und Vieh”, übersehen hatten, hatte sich das Land doch dann, als besäße es ein Fell, geschüttelt und, wie es von Zeit zu Zeit geschah, von Parasiten befreit, von Lebewesen, die winzig waren im Vergleich zum Land. Es war dann so (dächte man weiter) – als ob die Erde selbst ein riesiges Tier wäre, das sich reinigte und alles tötete, sogar die Ratten, die klug sind – und deren Vernichtung keine leichte Sache ist. Aber das ist lange her. Das ist lange her – nicht wahr? Manchmal sind Geschichten wie Krankheiten und gehen, als enthielten sie etwas Infektiöses, gar Tödliches, von einem Hörer zum nächsten. Von einem Ohr zum nächsten; von einem Einfallstor zum nächsten.

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