Leseprobe, Das Rätsel des Eremiten
Ein paar Biegungen weiter, hinter niedrigen Felsen, lag die ufernahe Stelle, an der sein Vater gerne in seiner Nussschale geschlafen hatte, über den großen, roten Muscheln. Das Wasser dort war zumeist so klar, dass der Meeresboden am Ende eines Trichters gut sichtbar blieb und, wie über den Schneckengang eines riesigen Ohrs, auch das leichte Plätschern an der Oberfläche wahrgenommen wurde. Und jetzt, da beide seine Eltern bereits seit Jahren nicht mehr lebten, dachte er, der Mann, der Eremit, nicht an die Akte der Gewalt, durch welche deren Leben beendet worden waren, sondern nur an die seither vergangene Zeit. Es war ihm aufgefallen, dass er kein Gefühl für Zeitspannen hatte, dass die Vergangenheit, auch die ferne Vergangenheit, und seine Gegenwart im Grunde nicht unterscheidbar waren – in seinem Kopf. Und die Inschriften und Bilder auf viel weiter entfernten, hohen Klippen waren daher, obwohl sie tausende von Jahren alt waren, auch Teil dieser Gegenwart. Die Geschichten seines Lebens dort einzuritzen war auch für ihn, wie für viele vor ihm, die einzige Möglichkeit, ein wenig länger zu existieren – wenn auch nur in Geschichten. Warum bloß – und für wen? Was war mit den Baumkäfigen, in die seine Mutter Vögel und kleine Affen gehängt hatte, zur Dekoration? War das berichtenswert? Sollten solche Geschichten nicht besser unerwähnt bleiben, damit in ferner Zukunft bloß niemand merke, wie seine Kindheit gewesen war? Schließlich war er ja auch in einem solchen Käfig gewesen und war in diesem sitzen geblieben, obwohl er ihn leicht hätte verlassen können. All diese Ereignisse, welche eine Traurigkeit um den Tod seiner Familie unmöglich machten. Aber das Gefühl konnte ja auf andere Wesen bezogen werden, auf Käfer etwa. Er schaute nach oben. Irgendwo begann das Hochland und erstreckte sich bis zu jener einzigen Ortschaft der Insel. Er war nie an dieser gewesen, um die Geschichten seines Vaters zu überprüfen. Dabei hatte der Eremit doch sonst alles überprüft – das Kernland aber nicht, nur die Randgebiete. Musste er nicht unbedingt auch stärker sein als seine Neugier? Und gibt es nicht im Leben eines jeden Lebewesens, also auch bei ihm, einen Punkt, ab welchem Überprüfung sinnlos war? Einen Punkt, ab dem es heißt: Sei, wie du eingerichtet bist, ändern lässt sich da nichts? War sein Vater überhaupt sein Vater gewesen? Einer der Arbeiter auf den Kohletransporten hatte dies in Abrede gestellt – und ihm damals solche Zweifel eingegeben, als er, der Eremit, noch ein Kind gewesen war. Er dachte an den haarigen Pan, wie er auf den offenen Kohleladungen des Güterzugs umherging, des Zugs, der zwischen dem kleinen Hafen und der Inselmitte pendelte. Es gab zudem noch das Geheimnis der drei am Wegesrand gefundenen, skelettierten Leichen, die sein Vater am Straßenrand entdeckt, aufgelesen und in die Ortschaft gefahren hatte, um den Bewohnern Angst zu machen. Was ihn seit seiner Kindheit immer beschäftigt hatte, war, dass er eben bloß die Geschichte kannte. Seine Mutter hatte ihm unter vier Augen immer wieder gesagt, sein Vater sei ein Lügner. Auch sonst hatte sie seinen Vater schlechtgeredet. Warum waren sein Vater und seine Mutter überhaupt zusammen gewesen – sofern sie überhaupt seine Eltern gewesen waren? Er schüttelte seine Gedanken und die für ihn unlösbaren Rätsel ab und nahm sich vor, später im Fluss schwimmen zu gehen. *** Als ein sehr leichter Regen über seine Haut strich, brachte dieses Nieseln ihm bildlich die Vorstellung eines anderen Regens vor sein inneres Auge, eines Regens unter Wasser, eines Plankton-Regens, der herabfällt auf die Wale, auf die Schalentiere am Meeresboden; bevor dann die Reise der Schwebeteilchen weitergeht, lebend oder nicht, weiter nach unten, in die Krater, vorbei an all den gepanzerten Geweihen und Klauen, mit denen seltsame Fauna dort unten seltsam ausgestattet lebt. Sie alle sind Bewohner der dunkleren Zonen, deren Weg, genauso wie der Weg des Planktons, weiter in die Tiefe führt, einen Schacht entlang ohne Licht, bis zur tiefsten Stelle. Er hatte sich Früchte genommen, obwohl er wegen der Dunkelheit nicht sehen konnte, was für welche es denn waren. Zwischen den Blättern wühlend, in denen diese hingen, pflückte er sie in der Düsternis der Nacht aus einem Busch, zu dem er hinausgekrochen war; ihm kam es vor, als würde er sie aus der Finsternis selbst pflücken, als wäre die Nacht berührbar wie ein Strauch. Er war wach geworden vor Hunger. Er aß die unbekannte Frucht und dazu auch Überreste des rohen Fleisches eines Tiers, welches er schon vor Tagen getötet, und von dem er zunächst zu viel zu rasch gegessen hatte. Überreste, die er im Zustand der Sättigung noch für ungenießbar gehalten und somit den Maden überlassen hatte. Die Maden, seine Freunde. Er probierte dann auch etwas, das vom Meer angespült worden war, in Form und Beschaffenheit einer großen, birnenförmigen Frucht ähnlich; etwas, das er mit in seinen Verschlag genommen hatte, um es genauer in Augenschein zu nehmen, zu welcher Überprüfung es jedoch nicht gekommen war. Und nun blieb ihm keine andere Wahl, als dieses Objekt, ob Pflanze oder Tier, ohne genauer hinzusehen, zu essen. Er musste essen, um am Leben zu bleiben – und am Leben zu bleiben bedeutete: Risiken einzugehen, mit Blick auf Verwesungsprozesse. Ein kleiner Moment nachlassender Wachsamkeit könnte bedeuten, in die Dunkelheit sich auflösender Bestandteile gehen zu müssen, zu zerfallen zu Partikeln, die am Ende des Zerfalls so viel kleiner waren als die des Plankton-Regens seiner Fantasie. Als das Licht des Morgens kam, sprach er mit sich selbst, um seine Stimme geschmeidig zu halten, um das Sprechen mit Menschen zu erleichtern, für den Fall, dass er wieder anderen Individuen seiner Spezies über den Weg laufen sollte. Er hatte lange keine Menschen mehr gesehen. Nicht, dass es ihn mittlerweile ermüdete, mit Insekten zu reden und so zu tun, als hörten sie ihn, oder mit Pflanzen, also mit Lebensformen zu parlieren, die ihm in seiner Vorstellung über kaum wahrnehmbare, feinste Signale zu verstehen gaben, dass sie in einem Dialog mit ihm standen, die versuchten, ihn zu ködern oder dahingehend zu locken, dass in ihm aus schierem Alleinsein ein Bedürfnis entstehe für die Pflanzen und Insekten und ihre vermeintlichen Mitteilungen. Die Muscheln dort drüben waren von den Gezeiten an Land gespült worden. Das Wasser hatte sich zurückgezogen, und nun gaben die Schalen der Austern und anderer Weichtiere, wie langweilige, unwillige Archivare, Auskunft über vergangene Wellenbewegungen, zeigten die das vielschichtige Strandgut hereinbringende Kraft, und zudem so etwas wie eine Absicht, erkennbar anhand der Muster in der Anordnung all dieser leeren Hüllen. Er las täglich aus den wechselnden Arrangements der Muscheln, als wären sie Schriftstücke. Vor Jahren hatte er seine Bücher verbrannt; und somit las er nun, was das Meer anspülte. Das Verbrennen der Bücher war kein Fehler gewesen, rechtfertigte er sich, sie waren ja noch in ihm. Den Inhalt der Bücher trug er bei sich, als wären Bücher Einsiedlerkrebse, und er die austauschbare Schale einer Muschel oder Schnecke, leblos ohne diesen Gast. Er ging den Hang hinauf, der hinter seinem kleinen Schuppen zu einem Hügel anstieg, über Gräser und Sträucher und Sand. Wie das Gesicht einer Welle aus einem Wellental, so stieg der Hügel an, mit ganz eigenen, charakterbildenden Zügen und Zonen. Oben angekommen, ließ es sich besser herabschauen auf Muscheln und sonstiges Strandgut, auf den Entwurf des Ganzen; heute waren es zumeist Muscheln einer bestimmten Art, Seeohren. Seit geraumer Zeit ergaben die Muscheln und Steine, immer wenn er zurücktrat, wenn er sie als Punkte vom Hügel aus sah und im Geiste für sich verband, ein Tier mit zwei Köpfen. In ferner Vergangenheit hatten Wahrsager die Eingeweide von Fischen aus den aufgeschnittenen Bäuchen der Fische für Orakel genommen. Die Muscheln, wie auch die Sterne, lassen sich auf jede beliebige Weise verbinden. Er ging den Hang wieder hinab, dorthin, wo er, als würde Haut Haut berühren, den Dingen so nah kam, dass das, was aus der Entfernung – wegen der Entfernung - erkennbar war, sich auflöste: all jene mehrköpfigen Tiere. Es sei denn, natürlich, er kam den Dingen wirklich nah, es sei denn, er ging so dicht an sie heran, dass die kleine Welt sich zeigte - die kleine Welt. Dann, plötzlich, waren auch die Bilder wieder da. Er war immer noch in der Ordnung der Dinge weit über den wilden Hunden, und viel höher noch über den Einsiedlerkrebsen. Für diese war er ein Gott. Nasses Holz; so ließ sich der Geruch beschreiben, welcher in der Luft lag: süße Verwesung, die aus dem Zwischenraum kam, wo es weich war unter der Rinde; die Empfindung, die der Geruch in ihm verursachte, war ihm angenehm - es war ihm angenehm, wie dieser in die Gänge im Hohlraum seiner Nase ging und ihn ohne Umwege erreichte. Die Ausdünstungen der Bäume brachten ihn an diesem Morgen wie in einen Raum hinein, in welchem die Bäume ihm Gesellschaft leisteten. Sein Geruchssinn war viel feiner als der anderer, besser etwa, als es der seiner Eltern gewesen war. Er hatte längst aufgehört, die diversen Spezies groß zu unterscheiden. Wenn der Geruch überhandnahm, war er – und das war gut – weiter nichts als eine Amöbe mit einer Nase. Ermüdend war das; Verbundenheit, auch die mit Bäumen, macht müde. Eine ungewöhnliche Wärme, ungewöhnlich, angesichts dessen, dass es noch früh am Tag war, trug die Stimmungen und Gerüche auch. Ob Holz, oder die Nase selbst, warm oder kalt ist, spielt eine Rolle. Vielleicht hatten ja die Möwen, auf ihren gedachten Aussichtsplattformen, hoch oben am Himmel, privilegiert, mehr gesehen als er vom Hang aus, und vielleicht würden sie ihm Krümel herabwerfen, zumindest Andeutungen, eines besseren Wissens. Er entschlüsselte immerzu. Und das umso mehr, je länger der Zustand des Alleinseins andauerte. Schließlich werden einem selbst die Steine so, als wären sie Personen. Hier also war er, hier unten, zwischen den niedrig wachsenden Büschen, die in ihrer Gesamtheit eine Art Tierfell darstellten, auch sie mit ihrem morgendlichen Tau, ihrem Schweiß, ihrer engen Verkettung – und: beachte, wie der Haaransatz des vorgestellten Tiers im Sand vor den Büschen endet, ab da nur Haut, wie ein Geier, welchem Federn, beim Eintauchen ins Aas, im Weg wären. Er watete bis zu den Knien in den Ozean hinein, um mit diesem in Verbindung zu treten, und durch Hinabbeugen mit dem Mund den Geschmack des von Algen eingefassten Schaums zu probieren, um so herauszukriegen, wie der noch bevorstehende Tag werden würde. Er ging mit seinen Fingern über das Wasser, als wären seine Finger ein Webkamm, und sprenkelte dann Tröpfchen auf seine Stirn und seinen Hals.
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